Krieg 4.0
Auch wenn Zyniker es gelegentlich behaupten: Krieg ist nicht der Motor des Fortschritts. Aber leider machen technischer Fortschritt und besonders die Digitalisierung auch vor dem Krieg nicht halt. Hier sind die fünf wichtigsten Trends, die moderne Konflikte wie den Ukraine-Krieg einschneidend verändern.
1. Hyperschallwaffen
Sie kommen schneller, als man denken kann – im wahrsten Sinne des Wortes. Hyperschallwaffen fliegen mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit und sind damit – zumindest in frühen Flugphasen – für Luftabwehrsysteme unerreichbar. Damit verkürzen sie die Reaktionszeit derart, dass Entscheidungsprozesse unter maximalem Druck stattfinden – oder ganz automatisiert werden müssen.
Hyperschallwaffen gibt es in zwei Hauptvarianten: als sogenannte Gleitflugkörper, die nach dem Start durch eine Rakete in grosse Höhe gebracht und dann in flacher Flugbahn mit enormer Geschwindigkeit ins Ziel gelenkt werden – und als Marschflugkörper mit Hyperschalltriebwerken, die kontinuierlich mit Überschallgeschwindigkeit durch die Atmosphäre fliegen. Beide Systeme haben gemeinsam, dass sie nicht wie ballistische Raketen auf vorhersehbaren Bahnen fliegen.
Russland hat in der Ukraine bereits Hyperschallraketen eingesetzt – mit wechselndem Erfolg. China testet regelmässig Gleitflugkörper, die in der Lage sein sollen, im Orbit zu kreisen und dann aus ungewohnter Richtung zuzuschlagen. Die USA entwickeln mit Hochdruck Gegenmodelle. Europa steht in diesem Wettrennen noch am Anfang. Frankreich, Deutschland und Grossbritannien haben Forschungsprogramme gestartet, um eigene Fähigkeiten zu entwickeln – oder zumindest Abwehrmechanismen.
2. Drohnen
Spätestens im Ukraine-Krieg haben sich Drohnen zu einem zentralen taktischen Element entwickelt. Sie fliegen permanent über den Schlachtfeldern, beobachten, markieren Ziele und greifen an. Wo früher klare Frontlinien herrschten, ist heute jeder Ort potenziell gefährlich. Die Präsenz von Aufklärungs- und Kamikazedrohnen zwingt Soldaten in eine neue Form der Tarnung und Disziplin, in der Unsichtbarkeit überlebensnotwendig ist.
Der Einsatz in der Ukraine reicht von handelsüblichen FPV-Drohnen, die mit kleinen Sprengladungen modifiziert werden, bis hin zu hoch entwickelten Systemen wie der türkischen Bayraktar TB2 oder iranischen Shahed-Drohnen, die ganze Gebäudekomplexe zerstören können. Der eigentliche Paradigmenwechsel liegt jedoch nicht in der Art der Waffe, sondern in ihrer Kostenstruktur: Ein selbst gebauter Flugkörper für wenige Hundert Dollar kann einen Panzer oder ein gepanzertes Fahrzeug im Wert von mehreren Millionen zerstören.
Die europäische Rüstungsindustrie arbeitet fieberhaft an Drohnen und Robotern für den Kriegseinsatz. Zum Beispiel das Münchner Start-up Helsing, das mit der HX‑2 eine massenproduzierbare, KI-unterstützte Kamikazedrohne entwickelt hat. Die soll in der Lage sein, Ziele in bis zu 100 km Entfernung zu bekämpfen. Im Mai präsentierte Helsing zudem die Unterwasserdrohne SG-1 Fathom, die bis zu drei Monate am Stück auf der Suche nach Unterwasserbedrohungen patrouillieren kann.
3. Raumfahrttechnik
Der Krieg hat den Orbit erreicht. Ohne dass ein Schuss auf der Erde fällt, kann ein gezielter Angriff im All Kommunikationsnetze lahmlegen, Navigationssysteme stören oder militärische Aufklärung blind machen. Die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von Satelliten ist gross. GPS, Internet, Wettersysteme, Finanzmärkte, Energieversorgung, Logistik – all das läuft über Signale aus dem Orbit. Auch militärisch ist die Rauminfrastruktur unverzichtbar: Satelliten liefern Aufklärung in Echtzeit, warnen vor Raketenstarts, koordinieren Drohnen, führen Präzisionswaffen und stellen sichere Kommunikation sicher. Wer die Kontrolle über diese Infrastruktur verliert, verliert im Zweifel auch die Kontrolle über den Krieg.
Das macht den Weltraum so sensibel – und zunehmend umkämpft. China, Russland und die USA haben bereits gezeigt, dass sie in der Lage sind, Satelliten abzuschiessen oder zu stören. Russland zerstörte 2021 einen eigenen Satelliten mit einer Bodenrakete – und erzeugte dabei eine gefährliche Trümmerwolke. China testete ähnliche Systeme schon 2007. Auch GPS-Störungen und Spoofing-Angriffe, bei denen falsche Positionsdaten gesendet werden, sind Bestandteil moderner elektronischer Kriegsführung geworden.
Die USA haben eine eigene «Space Force» gegründet. Die NATO hat den Weltraum zum eigenständigen Operationsraum erklärt. Frankreich, Deutschland und Grossbritannien bauen ihre militärischen Raumfahrtkapazitäten aus, investieren in Frühwarnsysteme, Satellitenverteidigung und Weltraumlagezentren. Der Trend geht dabei nicht nur zu besseren Satelliten, sondern auch zu neuen Taktiken: redundante Systeme, Mikro- und Nanosatelliten, die in Schwärmen operieren und im Fall eines Angriffs sofort ersetzt werden können.
4. Cyberspace
Der Krieg der Zukunft wird nicht mehr nur mit Raketen, Drohnen und Robotern geführt – sondern mit Zeilen aus Code. Der Cyberkrieg ist längst Realität. Was ihn gefährlich macht, ist seine Unsichtbarkeit. Während ein Raketenangriff eindeutig erkennbar ist, bleibt ein Angriff auf digitale Systeme oft unbemerkt – zumindest so lange, bis es zu spät ist. Ein gehacktes Stromnetz, eine manipulierte Kommunikationsleitung, eine zum Erliegen gebrachte Logistikkette: All das kann ein Land in kürzester Zeit lähmen, ohne dass ein Schuss fällt.
Die Ukraine hat gezeigt, wie mächtig diese Form der Kriegsführung geworden ist. Schon vor dem Einmarsch 2022 war das Land Ziel zahlloser russischer Cyberattacken – auf Energieversorgung, Banken, Ministerien. Malware zerstörte Daten, blockierte Systeme, richtete Milliardenverluste an. Und auch während des heissen Kriegs gehen digitale Operationen weiter: Störaktionen gegen Satellitenverbindungen, GPS-Spoofing an der Front, digitale Desinformation in sozialen Netzwerken. Der Cyberspace ist zum ständigen Gefechtsfeld geworden. Wer die digitale Infrastruktur eines Gegners kontrollieren, stören oder zerstören kann, hat die Macht, ihn militärisch und zivil zu destabilisieren – ohne eine einzige physische Waffe einzusetzen.
5. Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz ist dabei, die Kriegsführung zu revolutionieren. Anders als Drohnen, Hyperschallwaffen oder Panzer ist sie keine Waffe im klassischen Sinn. Als Querschnittstechnologie findet die KI ihren Platz in der Aufklärung, in der Entscheidungsfindung, in der Zielauswahl, in der elektronischen Kriegsführung und zunehmend auch in der Operationsführung selbst. Sie analysiert Daten, erkennt Muster, schlägt Handlungen vor oder trifft sie sogar.
KI verändert die Logik und die Geschwindigkeit der Kriegsführung: Ein Mensch braucht Minuten, um Satellitenbilder zu deuten, Funksprüche zu vergleichen, Geländedaten auszuwerten und daraus eine militärische Lage zu erfassen. Eine KI schafft das in Sekunden – mit Tausenden Datenpunkten gleichzeitig. Sie erkennt, dass ein feindlicher Konvoi sich in einem bestimmten Tal sammelt, dass Artillerie in Stellung geht, dass Flugabwehrstellungen eingeschaltet wurden. Und sie kann daraus Vorschläge berechnen: Wann und wo ein Angriff sinnvoll ist, wie hoch das Risiko wäre, ob sich ein Luftschlag lohnt oder nicht.
Der Krieg wird nicht mehr nur mit Soldaten und Waffen geführt, sondern mit Algorithmen und Datenströmen. Wer mehr Sensoren besitzt, wer Daten effizienter auswertet, wer schneller reagiert, der gewinnt. Gleichzeitig verschiebt sich auch die Verantwortung. In vielen Szenarien ist der Mensch zwar noch involviert, aber nicht mehr entscheidend. Bei der Zielidentifikation durch autonome Drohnen etwa trifft die KI eine Vorauswahl. In der Gefechtsführung schlägt sie auf Basis von Lagebildern Handlungsmöglichkeiten vor, priorisiert, bewertet Wahrscheinlichkeiten. Der Soldat wird zum Entscheider über Optionen, die er nicht mehr selbst generiert hat.
Beitrag von: Hendrik Thielemann