Digitale Zwillinge haben grosses Potenzial für Smart Manufacturing
Digitale Zwillinge können das Verhalten physischer Anlagen in der Fertigungsindustrie in Echtzeit simulieren und analysieren. Sie liefern Erkenntnisse, die dazu beitragen, Produktivität, Qualität und Sicherheit zu verbessern.
Die Produktionsplanung stützt sich traditionell auf ERP-Systeme. Diese Systeme bestimmen, was wann produziert wird, und leiten die Anweisungen zur Ausführung an die Produktion weiter. Sobald die Aufgaben erledigt sind, werden die Informationen an das ERP-System zurückgemeldet, um die nächsten Schritte zu steuern. Dieser lineare Ansatz stösst bei Störungen schnell an seine Grenzen. Die Einführung von Smart Manufacturing kann diese Einschränkung weitgehend überwinden und isolierte Daten einzelner Maschinen auflösen. Durch die Vernetzung der Produktionssysteme innerhalb einer Fabrik – und sogar über mehrere Fabriken hinweg – können Systeme Erkenntnisse austauschen und Abläufe gemeinsam verfeinern, wodurch ein stark integriertes Produktionsökosystem entsteht.
Verschiedene Ebenen der Intelligenz
Smart Manufacturing sieht eine Produktionsumgebung vor, die sich selbst plant und steuert und so menschliche Interventionen minimiert. Smart Manufacturing umfasst mehrere Ebenen. Die erste Ebene ist die Überwachung, bei der Maschinen ihren Status oder ihre Aktivität melden. Die nächste Ebene ist ein System, das in der Lage ist, datengestützte Empfehlungen zu geben, Lagerbestände zu überwachen und zu melden, wenn sie aufgefüllt werden müssen. Auf der höchsten Ebene werden Produktionssysteme vorausschauend, legen Regeln fest und treffen Entscheidungen auf der Grundlage von Vorhersagemodellen, wie z. B. einem digitalen Zwilling. Dies gewährleistet eine optimale Ressourcennutzung und vermeidet Ausschuss und Ineffizienz, indem Massnahmen auf spezifische Anforderungen zugeschnitten werden. Die Vernetzung von Maschinen ermöglicht es intelligenten Systemen, Probleme wie einen Lagerausfall zu erkennen, Ausfallzeiten vorherzusagen und die Produktion automatisch neu zu planen.
«Fortgeschrittenere digitale Zwillinge integrieren mehrere Dimensionen des physischen Verhaltens einer Anlage und erfassen, wie sie mit anderen Anlagen und Systemen interagiert», erklärt Hans Joachim Fröhlich, Direktor für Technologie und Portfolio bei der Endress+Hauser-Gruppe. Diese anspruchsvollen Modelle erfordern leistungsfähige IT-Hilfsmittel und Plattformen, um die Komplexität der Daten zu verwalten und die reale Leistung genau abzubilden.
«Ein digitaler Zwilling sammelt laufend Daten von seinem physischen Gegenstück und liefert so in Echtzeit eine Basis für die Entscheidungsfindung», sagt Prof. Markus Krack, Dozent für Smart Factory an der FHNW Hochschule für Technik und Umwelt. Je nach Reifegrad kann ein digitaler Zwilling Empfehlungen abgeben, Szenarien simulieren oder sogar die direkte Steuerung eines Produktionssystems übernehmen. «Das ultimative Ziel ist, dass der digitale Zwilling Prozesse in Echtzeit dynamisch verwaltet und optimiert, um intelligentere und effizientere Abläufe zu unterstützen», so Krack.
Besondere Herausforderungen
Die Implementierung von digitalen Zwillingen bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich: «Die grösste Herausforderung ist die Erfassung von Daten aus dem physischen Objekt», sagt Markus Krack. Um diesen Prozess zu vereinfachen, nutzen moderne Systeme Schnittstellen wie Open Platform Communication (OPC UA) und das Message Queuing Telemetry Transport (MQTT) Protokoll. Eine ISO-Norm definiert die Struktur und Architektur digitaler Zwillinge, einschliesslich des digitalen Netzwerks, der Datenspeicherung, der Verarbeitung und der Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI). Das Herzstück dieses Prozesses ist die Verarbeitungseinheit, in der Algorithmen – oft unterstützt durch künstliche Intelligenz (KI) – die Daten analysieren und Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen werden dann an das physische Objekt zurückgespielt und beeinflussen dessen Betrieb. Oft ist eine menschliche Schnittstelle eingebaut, um die Entscheidungen des digitalen Zwillings anzuzeigen. «Der Benutzer ist dann dafür verantwortlich, die Empfehlungen des digitalen Zwillings umzusetzen, wie zum Beispiel die Anpassung der Geschwindigkeit oder die Änderung von Einstellungen», erklärt Krack.
Mit der fortschreitenden Implementierung digitaler Zwillinge wird es wahrscheinlich zu einem Paradigmenwechsel kommen, bei dem die Notwendigkeit für direkte menschliche Eingriffe im Feedback-Loop zur Anpassung der Prozessparameter entfällt. Wenn man mit komplexen, realen Systemen arbeitet, müssen jedoch mehrere zusätzliche Herausforderungen bewältigt werden, um dies zu erreichen. Matthias Kramer, Leiter Digital Development Skan, sagt: «Bei der Erstellung eines digitalen Zwillings für einen gesamten Prozess arbeiten wir oft mit externen Partnern zusammen.» Dies werfe Bedenken hinsichtlich des geistigen Eigentums und der gemeinsamen Nutzung von Daten auf. «Während Kunden einen nahtlosen digitalen Zwilling für den gesamten Prozess wünschen, müssen wir sicherstellen, dass wir die Vertraulichkeit anderer Unternehmen nicht verletzen», so Kramer weiter. Dieses Problem könne durch eine enge Zusammenarbeit mit Partnern gemeistert werden, aber es bringe eine weitere Ebene der Komplexität mit sich.
Vorteile eines digitalen Zwillings
Die Implementierung digitaler Zwillinge mag herausfordernd sein, aber die Vorteile überwiegen. Durch die Optimierung von Prozessen und Entscheidungen sinken die Kosten. «Kunden setzen digitale Zwillinge ein, um die Gesamteffizienz ihrer Anlagen zu verbessern. Einige verzeichnen eine Produktionssteigerung von bis zu 20 Prozent, und bei einigen Installationen amortisiert sich die Investition bereits innerhalb eines Jahres», berichtet Matthias Kramer.
Hersteller befassen sich mit digitalen Zwillingen wegen ihrer Schlüsselrolle bei der vorausschauenden Wartung. Machine-Learning-Algorithmen und andere KI-Tools können Sensordaten analysieren, lernen und potenzielle Fehler vorhersagen, bevor sie auftreten, um nicht nur Ausfallzeiten zu reduzieren, sondern auch die Lebensdauer von Anlagen zu verlängern.
«Digitale Zwillinge können die Rückverfolgbarkeit von Fertigungsprozessen verbessern, indem sie einen digitalen Produktpass erstellen», so Krack weiter. Dieses Konzept, das durch künftige EU-Verordnungen unterstützt wird, stellt sicher, dass Produkte über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg verfolgt werden können. Der digitale Produktpass, der für einige Produkte bis 2026 verpflichtend werden soll, unterstreicht die Rolle digitaler Zwillinge bei der Förderung von Effizienz, Nachhaltigkeit und Innovation in der Industrie 4.0.
Ökosystem fördert Innovation
Die Wirtschaftsregion Basel beweist sich auch im Bereich der digitalen Zwillinge als Ort für Fortschritte: «Die Region ist ein grossartiger Ort, um wichtige Themen wie die digitale Transformation anzugehen und gleichzeitig Möglichkeiten zum Wachstum zu schaffen, indem die Zusammenarbeit zwischen Organisationen gefördert wird», so Smart-Factory-Experte Krack abschliessend.
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