Bedingt abwehrbereit
Mit einer neuen rüstungspolitischen Strategie will der Bundesrat der Schweizer Armee neues Leben einhauchen und die angeschlagene Schweizer Rüstungsindustrie vor dem Untergang retten.
Martin Pfister ist um seinen Job nicht zu beneiden. Seit einem halben Jahr steht der Mitte-Politiker an der Spitze des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) – eine Mammutaufgabe, bei der es eine Reihe von Altlasten zu beseitigen gilt. Im Juni hat Pfister die neue rüstungspolitische Strategie des Bundesrats vorgestellt. Die hat der Verteidigungsminister als «Work in Progress» von seiner Vorgängerin Viola Amherd übernommen und fortgeführt. Die Bestandsaufnahme in dem Papier werden nicht alle gerne lesen: Die Schweiz hat gravierende Fähigkeitslücken, wenn es darum geht, das eigene Land zu verteidigen. Das betrifft nicht nur die Armee, sondern vor allem die Industrie, die das Militär ausrüsten soll.
Die Defizite betreffen nahezu alle relevanten Bereiche – von der Führung über Sensorik und Cyberabwehr bis hin zur Wirkungstechnologie. Es fehlt an industriellen Fähigkeiten. Die sogenannte verteidigungskritische Industriebasis ist laut Strategie «nur noch in einem sehr beschränkten Umfang in der Schweiz vorhanden». Insbesondere Systemintegratoren und Hersteller von militärischen Gesamtsystemen fehlen fast komplett. «Für die Beschaffung von Hauptsystemen der Armee und gewissen Subsystemen (z. B. Lenkwaffen für bodengestützte Luftabwehrsysteme) ist die Schweiz daher bereits heute fast vollständig vom Ausland abhängig», heisst es in der Strategie weiter.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die Sicherheitslage in Europa grundlegend geändert. Auch die Lage an der «Beschaffungsfront» hat sich verschärft: Der hohe Materialverbrauch in dem Krieg führt zu einer Verknappung und Verteuerung von Rüstungsgütern auf dem internationalen Markt. Da, wo es noch etwas zu kaufen gibt, muss sich die Schweiz als Nicht-Bündnispartner hinten anstellen.
Mit der neuen rüstungspolitischen Strategie will der Bundesrat nun sicherstellen, dass die Armee modern ausgerüstet und die heimische Rüstungsindustrie gestärkt wird. Dazu will das VBS mehr im Inland einkaufen: 60 Prozent des Rüstungsbeschaffungsvolumens sollen in der Schweiz getätigt werden. Ausserdem will das VBS mehr in Forschung, Entwicklung und Innovation investieren. Dazu soll bis 2030 der Anteil des Armeebudgets für sicherheitsrelevante Forschung und Entwicklung schrittweise von heute einem auf insgesamt zwei Prozent erhöht werden. Besonders die Hochschulen, KMU und Start-ups sollen verstärkt wieder mit ins Boot geholt werden.
Eine leistungsfähigere Schweizer Rüstungsindustrie soll den Weg für neue internationale Kooperationen im Rüstungsbereich ebnen. «Nur wenn die Schweiz über Güter, Dienstleistungen und Know-how verfügt, die bei anderen Staaten auf Nachfrage stossen, werden diese künftig Anreize haben, mit der Schweiz im Rüstungsbereich zu kooperieren», so VBS-Chef Pfister. Solche Kooperationen sind laut Pfister eine «strategische Notwendigkeit». Die Schweiz werde auch in Zukunft von Rüstungsimporten aus dem Ausland abhängig bleiben, insbesondere bei Hauptsystemen wie Kampfflugzeugen, Kampfpanzern oder Artilleriesystemen.
Raus aus dem Exportdilemma
Die rüstungspolitische Strategie setzt deshalb auf Kooperationen mit den angrenzenden Ländern. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Systeme und das Material der Schweizer Armee mit der Ausrüstung der Nachbarländer identisch oder zumindest kompatibel sind. Künftig sollen daher 30 Prozent des Rüstungsbeschaffungsvolumens in den Nachbarstaaten und weiteren europäischen Ländern getätigt werden.
Vorher sind jedoch noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen. Der Ukraine-Krieg hat der Schweizer Rüstungsindustrie ein gewaltiges Problem beschert: Die Schweizer Exportpolitik verbietet Waffenexporte in Länder, die in bewaffnete Konflikte verwickelt sind. Dieses Verbot gilt auch für die Weitergabe von Kriegsmaterial durch Drittstaaten. Diese restriktive Haltung hat international für Unverständnis gesorgt und dazu geführt, dass europäische Staaten die Schweiz nicht mehr als verlässlichen Rüstungspartner ansehen. Deutschland, Dänemark und die Niederlande haben Schweizer Firmen explizit von der Liste potenzieller Lieferanten gestrichen. In der Vergangenheit flossen mehr als 40 Prozent der Schweizer Rüstungsexporte in diese Länder. Zudem haben einige Schweizer Firmen Teile ihrer Produktion ins Ausland verlagert.
Ohne Exporte ist die Schweizer Rüstungsindustrie jedoch nicht überlebensfähig. Der heimische Markt ist schlichtweg zu klein. Deshalb hat der Ständerat am 11. Juni wesentliche Lockerungen beschlossen. Künftig sollen Exporte in 25 westliche Staaten – darunter NATO-Mitglieder – grundsätzlich möglich sein, selbst wenn diese in bewaffnete Konflikte verwickelt sind. Zudem soll die Weitergabe von Schweizer Rüstungsgütern durch Empfängerstaaten an Dritte ohne vorherige Zustimmung der Schweiz erlaubt werden. Die Reaktionen aus der Industrie fallen positiv aus. Der Branchenverband Swissmem betont, dass bereits 92 Prozent der Rüstungsexporte im Jahr 2024 an diese Staaten gingen. Die Lockerungen seien daher dringend notwendig, um die industrielle Basis zu sichern und das Vertrauen internationaler Partner wiederherzustellen. Bis die Gesetzesänderung tatsächlich greift, wird jedoch noch Zeit ins Land gehen: Zunächst ist noch die Zustimmung des Nationalrats erforderlich und – im Falle eines Referendums – womöglich auch noch die des Stimmvolks.
Beitrag von: Hendrik Thielemann
Bildquelle: VBS/P. Schmidli