Ladestationen im Dienst des Stromnetzes
Die wachsende Zahl von Elektrofahrzeugen in der Schweiz und der Ausbau der Ladeinfrastruktur führen zu einer Belastung des Stromnetzes. Lastspitzen liessen sich vermeiden, wenn die Ladestationen netzdienlich gesteuert und mit Pufferspeichern ergänzt würden. Ein Westschweizer Forschungsteam hat diese Idee durchgespielt.
Solange nur einzelne Ladestationen in Betrieb waren, hat das robust ausgelegte Schweizer Stromnetz die Mehrbelastung durch die Elektromobilität ohne Weiteres verkraftet. Mit dem flächendeckenden Ausbau der Ladeinfrastruktur stösst das Netz aber an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Besonders wenn die Elektrofahrzeuge mit maximaler Leistung geladen werden, muss das Stromnetz verstärkt werden, was zu höheren Netztarifen führt. Erschwerend kommt dazu, dass Solar- und Windstrom nur zu Zeiten mit Sonneneinstrahlung bzw. Wind verfügbar sind. Daraus resultieren neue Belastungen, insbesondere für die regionalen und kommunalen Stromverteilnetze.
Fokus auf Verteilnetzen
Dieser Herausforderung hat sich ein Team der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in einem Demonstrationsprojekt mit dem Akronym MESH4U gewidmet. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten Verteilnetze, die mit steuerbaren E-Auto-Ladestationen und steuerbaren Batteriespeichern ausgerüstet sind und grössere Kraftwerke für erneuerbare Energien enthalten. Steuerbar bedeutet in diesem Projekt in erster Linie die Regelung von Spannung und Stromstärke – und zwar so, dass die Belastung des Verteilnetzes minimiert wird. Die Forscher untersuchten die Steuerbarkeit von Schnellladestationen in technischer Hinsicht ebenso wie aus Sicht der Akzeptanz der Nutzer. Sie fragten zudem, inwiefern der Einsatz einer Batterie die Flexibilität erhöht und damit einen netzdienlichen Betrieb von Ladestationen ermöglicht.
Die Studie wurde von einem Team um Prof. Mario Paolone (Distributed Electrical Systems Laboratory der EPFL) durchgeführt. Die Forschenden arbeiteten für das Projekt mit mehreren Partnern zusammen: der Software-Firma GridSteer, mit dem Westschweizer Stromversorger Romande Energie und mit der Anbieterin von Schnellladestationen Gotthard FASTcharge.
Ladestationen in Lausanne und Aigle
Das Projektteam baute auf dem EPFL-Campus eine öffentlich zugängliche Schnellladestation mit insgesamt 150 kW Ladeleistung auf. Daran können gleichzeitig zwei Elektroautos innerhalb von 15 Minuten mit 100 km Reichweite geladen werden. Zur Versuchsanordnung gehörten eine in einem Container untergebrachte Grossbatterie mit 560 kWh Ladekapazität und eine mittelgrosse PV-Anlage mit 40 kWp Leistung. Alle Stromflüsse im Netz wurden mit einer Messinfrastruktur aus Phasor Measurement Units (PMU) erfasst. Zum P+D-Projekt gehörte eine zweite Versuchsanordnung aus einer Ladestation, einer Batterie und einer zentralen PV-Anlage in Aigle (VD). Diese zweite Anlage bietet Lademöglichkeiten für gleichzeitig acht Fahrzeuge (1,2 MW Ladeleistung); die Batterie (2,5 MWh Ladekapazität) und die PV-Anlage (1,6 MWp Leistung) sind deutlich grösser als jene auf dem EPFL-Campus. Während die Batterie und die PV-Anlage schon bestehen, konnten die Ladestationen nicht rechtzeitig gebaut werden. Deshalb wurden für die Studie reale Ladeprofile von ähnlichen Standorten in Form von Simulationen herangezogen.
Die Anlage in Lausanne hatte den Vorteil, dass Personen befragt werden konnten, die dort ihr E-Fahrzeug luden. Aufgrund der Antworten konnten die Forschenden unter anderem abschätzen, wie flexibel die Ladestationen hinsichtlich der Ladedauer betrieben werden können, ohne den Komfort der Autofahrenden einzuschränken. Um es mit einem Beispiel anschaulich zu machen: Lädt eine Autofahrerin ihr Elektroauto während des einstündigen Mittagessens, dürfte es für sie in der Regel keine Rolle spielen, ob der 30-minütige Ladevorgang zu Beginn oder am Ende der einstündigen Mittagspause liegt oder ob das Auto während einer Stunde mit reduzierter Leistung geladen wird.
Algorithmus schaut in die Zukunft
Um Ladestationen netzdienlich betreiben zu können, muss sich die Ladeleistung in Echtzeit steuern lassen, und die Ladestationen sollten mit Batteriespeichern ergänzt werden, die Strom während Sekunden, Minuten oder Stunden puffern können. Das MESH4U-Team entwickelte Algorithmen, mit denen sich Ladestationen und Batterien in Echtzeit so steuern lassen, dass das System möglichst wenig zusätzliche Leistung aus dem Verteilnetz beziehen muss. Diese Algorithmen wurden an den Projektstandorten auf dem EPFL-Campus und in Aigle eingesetzt. Sie beruhen auf fortschrittlichen Vorhersagetools für die lokale PV-Produktion und den Stromkonsum der Ladestationen für den Folgetag, die durch das MESH4U-Team entwickelt worden waren.
Die Ergebnisse der MESH4U-Studie zeigen: Wenn man Ladestationen mit Batteriespeichern zu einem steuerbaren Ladesystem kombiniert, schafft man die technische Voraussetzung, um Planung der Produktionskapazitäten, Betrieb und Steuerung des Verteilnetzes flexibel zu gestalten und messbare Vorteile zu erzielen.
«Mit einem in Echtzeit steuerbaren Ladesystem einschliesslich Batteriespeicherlösung, wie es im MESH4U-Projekt entwickelt wurde, liess sich die ungeplante tägliche Netzbelastung […] im Vergleich zu einem ungesteuerten System um einen Faktor zehn verringern», schreiben die Autoren im Projektschlussbericht. Eine Umfrage bei Nutzerinnen und Nutzern der Ladestation auf dem EPFL-Campus hat gezeigt, dass sie für die Ladung ihrer Autos durchaus eine gewisse zeitliche Flexibilität zulassen: Eine klare Mehrheit der befragten Personen ist bereit, für den Ladevorgang einige Minuten länger einzuplanen – ein Drittel der Befragten würde dies ohne finanzielle Entschädigung tun, ein weiteres Drittel gegen Entschädigung. Auch wenn die verfügbare Flexibilität der steuerbaren Ladestationen begrenzt ist, können die Investitionen in Batteriespeicher, die zur Vermeidung einer Netzverstärkung erforderlich sind, reduziert werden.
Eine besondere Rolle für eine netzfreundliche Elektromobilität könnten künftig Ladestationen spielen, die in Unternehmen oder im öffentlichen Sektor ganze Flotten aus Elektrofahrzeugen versorgen. Bei diesen Ladestationen lassen sich die Ladezeiten nämlich planen. Ladestationen für Flotten können daher einfacher und mit einer deutlich kleineren Batterie netzdienlich betrieben werden.
Dazu sagt Projektleiter Georgios Sarantakos: «Eine Flotten-Ladestation ermöglicht das Netzmanagement im Vergleich zu einer allgemein zugänglichen Ladestation mit demselben Energiebedarf mit einer bis zu zehn Mal kleineren Batterie. Wenn man plan- und steuerbare Flotten-Ladestationen ins Netz einbindet, kann man die Vorhersagbarkeit und Flexibilität der steuerbaren Ressourcen des Netzes erhöhen. Das kann zu einem tieferen Investitionsbedarf z. B. für Speicherlösungen führen und die Auswirkungen der Elektromobilität auf die Netztarife begrenzen.»
Anreize schaffen Flexibilität
Klar ist: Mit Anreizen lässt sich die Flexibilität von Autofahrenden erhöhen. Es liegt somit nahe, dass Netzbetreiber, die Lastspitzen in ihrem Verteilnetz reduzieren wollen, Autofahrende belohnen, die bereit sind, ihren Ladevorgang etwas zu verlängern oder zeitlich zu verzögern. Die Autorinnen und Autoren der MESH4U-Studie schlagen ein Preisregime vor, bei dem Ladevorgänge über den Preis der bezogenen Leistung so gesteuert werden, dass Elektroautos zu Zeiten geladen werden, in denen das Netz wenig belastet wird.
Werden Ladestationen mit Batterien ausgerüstet, um Flexibilität für die Ladevorgänge zu erreichen, verursacht das Mehrkosten. Die Verfasser der Studie sind aber überzeugt, dass Ladesysteme mit steuerbarer Ladestation und Batterie in gewissen Fällen wirtschaftlich betrieben werden können, wie sie im Schlussbericht schreiben: «Für einen wirtschaftlichen Betrieb müssen für die Dimensionierung der Batteriespeicher verschiedene Parameter einbezogen werden. Dazu gehören unter anderem der Strompreis, die Zahl der Ladestationen, die Grösse des Transformators und die Entwicklung der geladenen Strommengen.» Die Rentabilität von Batteriespeichern könnte weiter verbessert werden, indem zusätzliche Dienste (insbesondere die Primärregelleistung) für das Netz bereitgestellt werden, wenn die Batterie nicht gerade zur Spitzenlastreduzierung eingesetzt wird.
Mehr Chance als Risiko
Unter dem Strich sieht die MESH4U-Studie die Durchdringung des Stromnetzes mit Schnellladestationen nicht als Risiko, sondern als Chance. Dazu die Einschätzung von EPFL-Wissenschaftler Georgios Sarantakos: «Werden Schnellladestationen zweckmässig gesteuert, werden Netzungleichgewichte durch ihre hohen Strombezüge reduziert.» Steuerbare Ladestationen könnten die Netzflexibilität erhöhen. Da die Flexibilität sowohl von den Autofahrern als auch von der Batterie ausgehen kann, ist es eine Frage der wirtschaftlichen Analyse, ob Anreize für erstere oder Investitionen in letztere erforderlich sind und in welchem Umfang.
Beitrag von: Hendrik Thielemann
Bildquelle: MESH4U und B. Vogel/Shutterstock