Der Herr der Materialien
Der Herr der Materialien
STZ | Dossier, November 2019 - Mit einem Team von EPFL-Forschern will Wenzel Jakob eine Datenbank erstellen, die Aussehen aller natürlichen und synthetischen Materialien der Welt digitalisiert.Ist es möglich, die Art und Weise zu reproduzieren, wie das Licht von Seide refl ktiert wird, das Kaleidoskop der Farben auf Schmetterlingsflügeln oder die Struktur von Stoffen, Kunststoffen und Steinen? In Zusammenarbeit mit der Firma Unity Technologies in Grenoble, einem Hersteller von Software für die Entwicklung von Computerspielen, will ein Forscherteam des Realistic Graphics Lab der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) genau das erreichen. Dazu digitalisieren die Forscher sorgfältig jedes Material, das sie in die Finger bekommen können, mit einem ausgeklügelten Gerät, einem sogenannten Goniofotometer.
Die Essenz des Materials erfassen
Man stelle sich vor, ein Auto an einem sonnigen Tag zu fotografie en: Das Bild wird nur sein Aussehen aus diesem einen bestimmten Blickwinkel und mit genau dieser Beleuchtung erfassen. Aber es kann nicht darstellen, wie das gleiche Auto später am Abend aus einem anderen Blickwinkel aussehen würde. Im Gegensatz zu einer Kamera misst ein Goniofotometer das von einem Material unter verschiedenen Winkeln reflektierte Licht und erfasst die grundlegenden Eigenschaften, die der lackierten Oberfläche des Fahrzeugs ihr besonderes Aussehen verleihen. Die resultierenden Daten sind viel umfangreicher als ein einzelnes Foto und können verwendet werden, um fotorealistische Computerbilder von Objekten aus denselben Materialien in beliebigen virtuellen Szenen zu erzeugen. Das Team der EPFL unter der Leitung von Prof. Wenzel Jakob untersucht, wie Licht mit verschiedenen Materialien interagiert, um diesen Prozess in einer Softwaresimulation nachzubilden. «Unser Ziel ist es, eine sehr umfangreiche Bibliothek von Materialien zusammenzustellen – nicht nur, um sie nachzubilden, sondern auch um mathematisch zu verstehen, was sie so aussehen lässt, wie sie aussehen», sagt Jakob. Die Materialproben, die die Forscher digitalisieren wollen, reichen von einem Blatt Papier, einem Stück Plastik und einem Stift über einen Schmetterlingsflügel bis hin zu einem Stück Stoff aus einem Darth-Vader-Kostüm. «Diese Art von Materialdaten ist in Bereichen wie Architektur, maschinelles Sehen oder der Unterhaltungsindustrie von unschätzbarem Wert. Wir haben vor Kurzem mit Weta Digital und Industrial Light & Magic zusammengearbeitet, die Filme wie Avatar und Star Wars machen», fügt er hinzu.
Realistische Bilder von virtuellen Welten
Das Goniofotometer ist eine beeindruckende, etwa fünf Meter lange Maschine. Es wird in einem Raum betrieben, dessen Wände mit schwarzem Stoff abgedeckt sind, um das von der zu analysierenden Probe refl ktierte Licht zu absorbieren. Die Probe wird in der Mitte der Vorrichtung platziert, wo sie von der Spitze eines Roboterarms aus beobachtet wird, der sich mit einer Geschwindigkeit von bis zu drei Metern pro Sekunde dreht, sodass für viele Konfigur tionen schnell Messungen durchgeführt werden können. «Eine herkömmliche Kamera erfasst nur rote, grüne und blaue Farbinformationen, die für das menschliche Auge sichtbar sind. Stattdessen verwenden wir ein Spektrometer, das Hunderte von Wellenlängen über das gesamte visuelle Spektrum bis hin zu UV und Infrarot erfasst. Diese Datenfülle liefert uns viel mehr Informationen über ein Material. So können wir sein Aussehen sehr genau simulieren», sagt Jakob. Das Team hat einen neuen Algorithmus entwickelt, der das Goniofotometer so steuert, dass es nur eine kleine, aber relevante Teilmenge der möglichen Daten erfasst. So können Materialien viel schneller als bisher digitalisiert werden. Jakobs Gruppe entwickelt auch den Mitsuba Renderer, eine weitverbreitete Open-Source-Softwareplattform, die Licht rechnerisch simuliert, um fotorealistische Bilder von virtuellen Welten zu erzeugen. Mit den gewonnenen Daten können diese Simulationen nun eine bisher unerreichte Genauigkeit erreichen.
Autorin: Sandy Evangelista
Bildquelle: EPFL, Alain Herzog
Artikel aus der STZ: Ausgabe Nov. 2019