Nachhaltigkeit: Eine fortlaufende Diskussion
In einer Diskussionsrunde wurden verschiedene Ansätze zur Nachhaltigkeit im Ingenieurwesen thematisiert. Die Teilnehmenden sind Experten in verschiedenen Bereichen der Nachhaltigkeit. Es wurde diskutiert, wie das Thema in den Alltag des Engineerings gehören sollte und warum Nachhaltigkeit nicht binär ist.Autorin: Belinda Kneubühler, Vorstandsmitglied Swiss Engineering Fachgruppe Elektronik und Informatik
Alle Teilnehmenden sind bei der Zühlke Engineering AG tätig. Elena Monastyrnaya arbeitet als Sustainability Innovation Consultant und beschäftigt sich täglich mit Kunden, die in verschiedenster Weise ihre Nachhaltigkeit verbessern möchten. Kevin Arm und Ronny Hoffmann kommen aus der Produktentwicklung und bereiten einen Kurs zum Thema «Design for Sustainability» vor, der im Juni zum ersten Mal durchgeführt wird. In der Elektronikentwicklung setzt sich Salim Seddiki für Nachhaltigkeit ein, indem er mithilfe des Life Cycle Assessments (LCA) den Kunden aufzeigt, wo sie Potenzial haben. Für Nachhaltigkeitsfragen im Bereich der Softwareentwicklung ist Christian Abegg die richtige Ansprechperson. Der vorliegende Artikel fasst eine Diskussion zwischen den oben genannten Fachpersonen zusammen und soll als Denkanstoss dienen, wo und wie uns nachhaltiges Denken im Berufsalltag weiterbringen kann.
Soziale Nachhaltigkeit nicht vergessen
Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, meinen wir meistens den ökologischen Aspekt. Für die Gesellschaft ist aber auch die soziale Nachhaltigkeit wichtig und in der Wirtschaft ist ökonomische Nachhaltigkeit unabdingbar. Eine holistische Herangehensweise verhindert idealerweise negative Konsequenzen unseres derzeitigen Handelns für zukünftige Generationen in allen Aspekten.
Im Engineering können nachhaltige Designs auf verschiedenste Weise eine enorme Auswirkung haben. Zumindest dann, wenn Nachhaltigkeit in frühen Stadien der Produktoder Softwareentwicklung und nicht erst als «afterthought» vom Marketing miteinbezogen wird. Software im Speziellen kann nicht nur selbst mehr oder weniger nachhaltig sein, sie kann auch dazu dienen, nachhaltige Ziele zu erreichen.
Die grössten Auswirkungen herausfiltern
Ersteres kann das Offensichtliche sein, nämlich die Software so zu gestalten, dass sie möglichst energieeffizient arbeitet und so zum Beispiel Websites weniger Traffic haben, oder aber, dass die Software selbst «carbonaware» ist. «Carbon Aware Software» verlegt beispielsweise Arbeitslasten automatisch auf andere Orte oder Zeiten, um mehr grüne Energie nutzen zu können, oder schränkt Funktionalität ein, wenn die verfügbare Energie zu schmutzig ist.
Bei der Entwicklung und Herstellung von elektronischen Bauteilen gibt es ein hohes Potenzial, nachhaltiger zu werden. Zur Identifikation der relevanten Teile eignet sich ein Life Cycle Assessment (LCA). Es zeigt auf, wo die grössten Auswirkungen sind und wo eine Anpassung die grösste Wirkung haben kann. Das Ergebnis des LCAs ist besonders dann hilfreich, wenn es nicht intuitiv ist. Erwartungsgemäss ist das PCB mit den hochintegrierten Schaltungen der grösste Sünder, jedoch auch am aufwendigsten anzupassen. Bei einem LCA eines kleinen Consumer-Gerätes war das Ergebnis aber, dass das kundenspezifische Display die grösste Auswirkung hat. Auch wenn eine Displayanpassung Folgen auf die Funktionalität hat, bietet diese Erkenntnis einen Spielraum, um den Fussabdruck des Gerätes zu verbessern.
Kleine Schritte, wie inkrementelle Änderungen im Design, sind einfach realisierbar und kurzfristig realistischer als eine Anpassung des gesamten Businessmodells, beispielsweise hin zum «Product as a Service» (PaaS), wo auch der Dienstleister an der Langlebigkeit des Produkts interessiert ist und davon profitiert.
Life Cycle Assessment (LCA)
Das LCA misst die Auswirkungen auf die Umwelt in Verbindung des Lebenszyklus eines Produktes, Prozesses oder Services. Es besteht aus vier Stufen:
- Definition von Ziel und Umfang,
- Inventory Analyse,
- Abschätzen von Umweltauswirkungen (Life Cycle Impact),
- Interpretation.
Es ist ein iterativer Prozess, bei welchem die Analyse ergeben kann, dass mehr Daten gebraucht werden, oder das Resultat sein kann, dass das Ziel oder der Umfang angepasst werden muss. Für die Interpretation beschreibt der Standard ISO 14044 mehrere Tests, um zu prüfen, ob die verwendeten Daten und Prozesse die Schlussfolgerungen unterstützen. Das Resultat hilft, die Produktentwicklung, das Marketing oder die strategische Planung zu verbessern.
Gesamtenergiebilanz im Auge behalten
Doch weshalb sollte sich ein Unternehmen überhaupt Gedanken zur Nachhaltigkeit machen? Intrinsische Faktoren sind langfristige Überlegungen zur Effizienzund Effektivitätssteigerung. Wenn mit Lebenszykluskosten und nicht mehr mit Einzelkosten gerechnet wird, sind damit auch Kosteneinsparungen verbunden. Am Beispiel des Elektrofahrzeuges sieht man dies gut. Die Herstellungs und Anschaffungskosten sind höher als bei einem vergleichbaren Verbrenner. Dafür spart man im Unterhalt. Im Recycling und der Wiederverwendung gibt es aber noch Potenzial. Auch gesetzliche Regulierungen werden als Treiber für Verbesserungen der Nachhaltigkeit eines Unternehmens immer wichtiger.
Reparieren statt ersetzen
Erst im März hat die EU-Kommission einen neuen Vorschlag für gemeinsame Vorschriften zur Förderung der Reparatur von Waren angenommen. Damit soll einerseits bewirkt werden, dass Geräte im Rahmen der Garantie eher repariert als ersetzt werden, sowie einfachere und kostengünstigere Optionen zur Reparatur zur Verfügung stehen. Einen Monat davor wurde der Vorschlag für eine EU-Richtlinie über die Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen angenommen. Dieser soll nachhaltiges, unternehmerisches Verhalten in allen globalen Wertschöpfungsketten fördern. Kleine und mittelgrosse Unternehmen (KMU) sind von dieser Richtlinie ausgenommen, dürften jedoch als Zulieferer für grössere Unternehmen dennoch in Verantwortung genommen werden. Diesen Druck spüren Zulieferer heute schon.
Kriterien gegen Greenwashing
Wenn sich ein Unternehmen der Nachhaltigkeit verpflichtet, wird dies immer auch zu Marketingzwecken verwendet. Doch wo hört «tue Gutes und rede darüber» auf und wo fängt Greenwashing an? Stutzig werden sollte man, wenn etwas endgültig als nachhaltig bezeichnet wird. Nachhaltigkeit ist nicht binär. Auch die Frage nach der Nachhaltigkeit eines Prozesses kann selten mit «Ja» beantwortet werden. Eine ehrliche Antwort beinhaltet Bedingungen. Deswegen ist die Antwort aber nicht «Nein», auch wenn es oft so interpretiert wird.
Die Hoffnung bleibt, dass die wenigsten Unternehmen Greenwashing böswillig betreiben, ohne die Absicht etwas zu verbessern. Trotzdem werden Nachhaltigkeitsbemühungen oft für mehr verkauft als sie sind. Um dem entgegenzuwirken, hat die EU-Kommission,
ebenfalls im März, gemeinsame Kriterien gegen Greenwashing und irreführende Umweltaussagen vorgeschlagen. Dies soll vage oder irreführende Aussagen verhindern und wirklich nachhaltige Unternehmen fördern.
Standards festlegen
Für die Zukunft haben die Teilnehmenden dieser Diskussion unterschiedliche, aber dennoch kompatible Vorstellungen. Nachhaltigkeit soll von einem strategischen auf ein operatives Level kommen, sprich von Unternehmen gelebt werden. Dafür müssen aber vielerorts bestehende Strukturen angepasst werden und dies nicht nur firmenintern, sondern im gesamten Ökosystem. Es müssen Gemeinschaften geschlossen und Standards festgelegt werden.
Von der Option zur Selbstverständlichkeit
Trotz vieler guter Gründe wird Nachhaltigkeit oft vernachlässigt. Um das Thema zugänglicher zu machen, entwickeln Kevin Arm und Ronny Hoffmann einen Kurs, um vom Produkt-Management bis zur Entwicklungsabteilung allen aufzuzeigen, dass nachhaltiges Design keine Hexerei ist. Nachhaltigkeit soll nicht mehr optional sein, sondern selbstverständlich.
In der Software wird erwartet, dass nachhaltige Aspekte zu einem Qualitätsstandard werden, ähnlich wie es heute schon Sicherheit und Zugänglichkeit sind.
Es zählen auch kleine Schritte
Nachhaltigkeit ist ein hochkomplexes Thema und somit ein Problem mit vielen Stakeholdern und keiner einzigen richtigen Antwort. Daher ist es wichtig, nicht perfektionistisch zu sein. Es zählen auch kleine Schritte. Die gemachten Schritte sollen aber evaluiert und optimiert werden, um sich so fortlaufend der Nachhaltigkeit zu nähern.
Kurs «Design for Sustainability»:
www.zuehlke.com/de/design-for-sustainability
Artikel ist erschienen im Polyscope 04/2023