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Die Pflanze als Individuum

STZ, Juli/August 2020 - Auf der Swiss Future Farm im thurgauischen Tänikon erproben Experten Zukunftstechnologien für die Landwirtschaft. Das «Smart Farming» soll helfen, Ackerbau und Tierzucht effizienter und nachhaltiger zu machen.

Keine Drohnen, die über den Feldern schweben. Keine Robotertraktoren, die wie von Geisterhand gesteuert ihre Arbeit verrichten. Auf den ersten Blick sieht die Swiss Future Farm in Tänikon aus, wie ein ganz normaler Bauernhof: Kuh- und Schweineställe, Einstellhalle, Verwaltungsgebäude, im Hof ein Traktor der Marke Fendt. «Vieles hier ist unspektakulär», erklärt Nicolas Helmstetter, Projektleiter Swiss Future Farm von der GVS Agrar AG, fast schon entschuldigend. Die Innovationen stecken oftmals nicht in der Hardware, sondern die Software macht den Unterschied. Und die sieht man eben nicht.

 

Eisbrecher in einer konservativen Branche
In einer Public Private Partnership haben der Kanton Thurgau mit seinem landwirtschaftlichen Bildungszentrum BBZ Arenenberg, der Landmaschinenhersteller AGCO, und die Schaffhauser GVS Agrar AG, die die AGCO-Maschinen in der Schweiz vertreibt, die Swiss Future Farm vor zwei Jahren auf die Beine gestellt. 81 Hektar Land, 65 Milchkühe, 55 Mutterschweine – das sind die «Versuchsobjekte» der Farm. Hier erproben die Experten die Landwirtschaft von morgen. Der Versuchsbetrieb ist in seiner Grösse und Ausstattung europaweit einzigartig. «Hier können wir Dinge ausprobieren, die ein Landwirt im Arbeitsalltag nicht kann», sagt Nicolas Helmstetter. Und es geht auch darum, den Schweizer Bauern in Sachen Landwirtschaft 4.0 auf die Sprünge zu helfen. «Wir wollen hier Smart-Farming-Technologien greifbar und verständlich machen», formuliert Helmstetter das gemeinsame Ziel der Partner. Die Landwirtschaft sei eine konservative Branche, in der man Neuerungen eher skeptisch gegenüberstehe.  «Es geht darum, das Eis zu brechen.»

«Wir wollen hier Smart-Farming-Technologien greifbar und verständlich machen. Es geht darum,das Eis zu brechen.»

Nicolas Helmstetter


In der Einstellhalle der Swiss Future Farm steht ein knapp acht Tonnen schwerer Traktor der Marke Valtra. «Obere Mittelklasse», sagt Nicolas Helmstetter. Auf den ersten Blick sieht der Schlepper ganz normal aus. Steigt man ein, merkt man aber schnell, dass er mit moderner Elektronik mindestens so vollgestopft ist, wie ein Personenwagen der oberen Mittelklasse – wenn nicht noch mehr: Reifendruckregelanlage, stufenloses Getriebe, Drehzahlregelung per Joystick. Ein Touch-Display im Cockpit zeigt alle wesentlichen Parameter. Die Armlehne mit ihren Bedienelementen ist frei konfigurierbar, um die Elektrik und Hydraulik der angehängten Maschinen zu steuern. Genau wie im Auto lassen sich Fahrer- und Maschinenprofile abspeichern. Auch ein Head-up-Display ist vorhanden. «Spielerei», sagt Helmstetter schmunzelnd.

 

Kuhstall 4.0
Nicht nur auf den Feldern der Swiss Future Farm wird die Landwirtschaft der Zukunft erprobt, auch in den Kuh- und Schweineställen in Tänikon haben Big Data und Automatisierung Einzug gehalten. Schlechte Nachricht für Traditionalisten: Die Kuhglocke hat ausgedient. Die Kühe der Swiss Future Farm tragen stattdessen ein GPS-Halsband, das neben Position und Bewegungsprofil der Tiere auch andere Daten aufzeichnet, beispielsweise die Wiederkauungszyklen. Die Future Farm hat bisher noch keinen Melkroboter. Hätte sie einen, würde dieser ebenfalls Daten erfassen, wie beispielsweise Körpertemperatur und abgegebene Milchmenge. Das hilft einerseits, Gesundheit und Wohlbefinden des Milchviehs zu beurteilen, andererseits bestimmen diese Informationen die Menge und Zusammensetzung des Kraftfutters, das jeder Kuh individuell verabreicht wird. Digitalisierung ist dabei nicht mit industrieller Tierhaltung gleichzusetzen. Ziel ist es nicht, den Menschen einzusparen, es geht vielmehr um Effizienz, um das Tierwohl und um Flexibilität und Entlastung für den Landwirt. Der muss nicht mehr zu festen Zeiten in den Stall, um zu melken, und kann den «Routinebetrieb» im Kuhstall per Smartphone überwachen.

 

Traktoren lenken automatisch
Ganz sicher keine Spielerei ist das Lenksystem, das den Traktor per Satellitennavigation auf wenige Zentimeter genau steuern kann, wesentlich präziser also als das Navi eines Autos. Möglich wird dies durch Echtzeitkinematik (Real Time Kinematic, RTK), eine Technik, die Messungen der Phase der Trägerwelle des Signals und Abgleich mit Referenzstationen einsetzt, um die Genauigkeit der Satellitennavigation zu verbessern. Wie das in der Praxis funktioniert, demonstriert Helmstetter bei einer Runde über den Hof. Von Hand steuert der Elsässer den Schlepper zwischen den Hofgebäuden hindurch und baut auch noch ein paar Schlangenlinien ein. Das Lenksystem zeichnet die gefahrene Strecke auf und fährt sie bei einer zweiten Hofrunde selbstständig präzise nach – inklusive Schlangenlinien. Einmal angelegt, kann eine solche Spur auf dem Feld über Jahre genutzt werden.
«Das System kann den Traktor auf eine Daumenbreite genau steuern», sagt Helmstetter. Ein guter Fahrer schafft über einen längeren Zeitraum eine Genauigkeit von ungefähr  15 cm. Bei einer Arbeitsbreite von drei Metern bedeutet das eine Abweichung von fünf Prozent. Mit GPS-Steuerung weicht der Traktor dagegen nur ein Prozent ab. Im Ergebnis wird mit der Automatik weniger Fläche doppelt bearbeitet. Zwar muss der Bauer – schon aus Sicherheitsgründen – nach wie vor auf dem Traktor sitzen, er spart jedoch Treibstoff, Saatgut, Pflanzenschutzmittel und Arbeitszeit. Am Beispiel einer Rapsparzelle rechnet Helmstetter eine Einsparung von 90 Franken pro Hektar vor. Dem gegenüber stehen Investitionskosten für das Lenksystem von 10'000 bis 15'000 Franken. Bei einem 80 Hektar grossen Betrieb amortisiert sich diese Investition bereits nach etwa zwei bis fünf Jahren.


Eintrittskarte ins Precision Farming

Viel wichtiger ist aber: Die automatische Traktorsteuerung ist die Eintrittskarte in die Welt des «Precision Farming», der teilflächenspezifischen Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen. Das ist Industrie 4.0 in der Landwirtschaft. Hier verschmelzen die gleichen Technologien wie in der Smart Factory: Sensorik und Big Data, Automation mit intelligenten Maschinen, die Cloud und das Internet der Dinge.

«Precision Farming ist eine Chance für unsere Landwirtschaft, die in den vergangenen Jahren wegen ihrer hohen Kosten immer weiter in die Ecke getrieben worden ist.»

Nicolas Helmstetter

 

Die Felder der Swiss Future Farm werden mithilfe sogenannter Applikationskarten bewirtschaftet. Die Daten für diese Karten stammen von Sensoren – im Boden, auf den Maschinen, auf Drohnen und vor allem von Satelliten. Sie liefern Informationen über den Zustand des Bodens und der Pflanzen. Diese werden dann in den Applikationskarten verarbeitet. Die Karten, die dann an den Traktor übermittelt werden, erhalten Anweisungen für die teilflächenspezifische Bewirtschaftung: An welcher Stelle wird wie viel Saatgut ausgebracht?  Wo wird welche Düngermenge eingesetzt?  An welchen Stellen wächst Unkraut und muss gespritzt oder gehackt werden?


Plug and Play für Landmaschinen
Um die Anweisungen der Karten dann umzusetzen, müssen auch die Maschinen, die der Schlepper zieht, intelligent werden. Deshalb kommunizieren moderne Geräte mit dem Traktor über einen einheitlichen Schnittstellenstandard, den ISO-Bus. Diese neunpolige «Steckdose» macht es möglich, Geräte unterschiedlicher Hersteller per Plug and Play zu verbinden.

Mit autonomen Traktoren, intelligenten Maschinen und einheitlichen Schnittstellen ist die Hardware für das Precision Farming inzwischen verfügbar. Die Herausforderung besteht darin, die Brücke zwischen Daten und Applikation zu schaffen und die Algorithmen zu entwickeln, mit denen die Zusammenhänge und Korrelationen hergestellt werden, erklärt Nicolas Helmstetter. «Die zahlreichen Parameter machen es extrem schwer zu entscheiden: Muss ich jetzt die guten Bereiche noch mehr düngen, damit sie noch mehr Ertrag bringen? Oder habe ich da das Limit erreicht und muss eher reduzieren?» Früher sei in der Landwirtschaft vieles über Gefühl und Erfahrung gegangen. «Heute können wir schon sehr gute Genauigkeiten erreichen. Aber so weit, dass unser System auf Knopfdruck die Daten zusammenführt und die Applikationskarte ausspuckt – so weit sind wir noch nicht.»


Mit Effizienz und Nachhaltigkeit

Precision Farming soll vor allem helfen, die vorhandenen Flächen effizienter und nachhaltiger zu nutzen. «Ich bewirtschafte nicht mehr eine grosse einheitliche Fläche, ich betrachte die Pflanzen viel mehr als Individuen und schaffe den Rahmen dafür, dass jede einzelne Pflanze bestmögliche Entwicklungsbedingungen bekommt und ihr Potenzial ausschöpfen kann», erklärt Nicolas Helmstetter. Die neuen Technologien ermöglicht auch die Rückkehr zu Arbeitsweisen, die längst ausgedient hatten, beispielsweise beim Entfernen von Unkraut. Da wird normalerweise gespritzt, das ist schnell und billig. «Jetzt kehren wir zurück zur Methode unserer Grossväter. Wir hacken wieder», berichtet Nicolas Helmstetter. Hacken war bisher unwirtschaftlich, denn um die Arbeit präzise genug auszuführen, musste zusätzlich zum Fahrer des Traktors ein zweiter Mitarbeiter auf der Hacke sitzen, um diese zu steuern. Das war viel zu teuer. Jetzt erkennen Kamerasysteme die Pflanzenreihe und lenken die Hacke. Diese hält bei einer Geschwindigkeit von 12 bis  15 km/h einen Sicherheitsabstand von 3 bis  4 cm zur Nutzpflanze genau ein, entfernt das Unkraut chemiefrei und lockert dabei als  Nebeneffekt auch noch den Boden auf.


Chance für die Schweizer Landwirtschaft
Steigerungen der absoluten Erträge stehen weniger im Mittelpunkt des Precision Farmings – zumindest nicht in Westeuropa, wo das Potenzial weitgehend ausgereizt ist. Dennoch sieht Nicolas Helmstetter im Smart Farming gerade für die europäische Landwirtschaft eine grosse Chance. Die Kosten seien hierzulande zwar hoch, die Produkte dafür aber von hervorragender Qualität. Und das könne in Zukunft mit den Smart-Farming-Daten umfassend dokumentiert werden: «Wenn ich eine Tonne Weizen liefere, kann ich jetzt auch das dazugehörige Datenpaket mit abliefern. Alles wird transparent: Anbauort, Arbeitsschritte, Messdaten. Ich kann belegen, wie dieser Weizen produziert wurde und welche Qualitätsmerkmale vorhanden sind. Genauso mit der Milch: Ich weiss genau, welche Kuh mit welchem Futter von welchem Feld gefüttert worden ist.»
In Zeiten, in denen ein Vertrauensverlust gegenüber der Nahrungsmittelproduktion besteht und in denen Regionalität, Qualität und Nachhaltigkeit für die Verbraucher wichtiger werden, kann sich das als entscheidender Wettbewerbsvorteil herausstellen. «Das ist eine Chance für unsere Landwirtschaft, die in den vergangenen Jahren wegen ihrer hohen Kosten immer weiter in die Ecke getrieben worden ist», meint Helmstetter. «Smart Farming bringt die Chance, den Druck in  einen Wettbewerbsvorteil umzuwandeln und das auch zu vermarkten.»

 

Landwirtschaft am Bildschirm
Moderne Landwirtschaft ist auch Computerarbeit. Im Farm-Management-System der Swiss Future Farm laufen alle Fäden zusammen. In der integrierten GIS-Applikation sind alle Schläge auf wenige Zentimeter genau vermessen. Hier werden, basierend auf Sensor- und Satellitendaten die Applikationskarten erstellt. Auch die Fahrspuren der Traktoren werden in dieser Applikation geplant und dann via Mobilfunk an die Fahrzeuge gesendet. Im Feldkalender der Software ist jeder durchgeführte Arbeitsschritt genau dokumentiert. Die Mitarbeiter können die erledigten Arbeiten per App in das System eingeben. Gleichzeitig hilft die Software beim Controlling, indem sie die Kosten der durchgeführten Massnahmen berechnet und verschiedene Methoden (z. B. Unkraut spritzen oder hacken) miteinander vergleicht.

 

Autor: Hendrik Thielemann
Bildquellen: SFF
Artikel aus der STZ: Ausgabe Juli/August 2020