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Die Erfindung der Zukunft

STZ, Mai 2021 - Wie wird die Welt aussehen, in der wir morgen leben? Von Nostradamus bis Elon Musk haben sich Wahrsager, Wissenschaftler, Literaten und Manager an dieser Frage die Zähne ausgebissen – und sich dabei gegenseitig inspiriert.

«Das Internet ist nur ein Hype.» Diese Prognose wagte einer, der es eigentlich wissen musste: Bill Gates. Der Microsoft-Gründer soll diese Aussage 1993 in einer Konferenz mit seinem Team getroffen haben. Gates muss sich für seinen Irrtum nicht schämen, er ist in bester Gesellschaft, denn auch Futurologen liegen mit ihren Prognosen häufig falsch. Das Internet werde niemals ein Massenmedium, postulierte der deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx kurz nach der Jahrtausendwende. «Im Gegensatz zum Telefon oder einem Radio mit drei Knöpfen ist das WWW eine kompliziert zu bedienende Angelegenheit», begründete Horx seine Prognose. Ein paar Jahre später legte er nach und erklärte öffentlich, von Facebook werde «in fünf Jahren kein Mensch mehr reden.»

Die meisten Zukunftsprognosen sind falsch

Wer heute im seltsamerweise immer noch existierenden Internet recherchiert, wird feststellen: Die Liste der falschen Zukunftsprognosen ist endlos. Manchmal wird das Potenzial neuer Technologien nicht erkannt, in anderen Fällen wird zumindest die Geschwindigkeit des Fortschritts massiv überschätzt. So sah der Zukunftsforscher und Pentagon-Berater Herman Kahn den ersten bemannten Flug zum Mars für Mitte der 1980-er Jahre voraus, und Tesla-Chef Elon Musk hatte uns eigentlich schon für 2020 vollständig autonom fahrende Elektroautos mit einer Reichweite von 1200 km und einer Batterielebensdauer von einer Million Meilen versprochen. Mitte des Jahrhunderts will er eine Stadt auf dem Mars gebaut haben. Prognosen, Visionen, Wunschvorstellungen – wenn es darum geht, was die Zukunft bringen wird, dann verschwindet die Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion schnell. Das weiss auch Futurologe Horx «Es war Wishful Thinking. Idealisierung. Ein typischer blauäugiger Prognose-Fehler: Man wünscht sich etwas. Man hofft auf den Sieg des Guten. Man erklärt zur Zukunft, was man präferiert. Und damit erleidet man Schiffbruch», erklärt der Zukunftsforscher seinen Facebook-Irrtum. Dass auch die Wissenschaft die Zukunft nicht treffsicher vorhersagen kann, erkennen seriöse Zukunftsforscher an. Das hält sie jedoch nicht davon ab, ihr Handwerk weiterzubetreiben. Auch an einigen Hochschulen gibt es inzwischen – meist sozialwissenschaftlich ausgerichtete – Studiengänge, in denen die Zukunftsforschung zumindest ein Teilaspekt des Studiums ist. An der Freien Universität Berlin gibt es gar einen Masterstudiengang «Zukunftsforschung». Die akademischen Zukunftsforscher verstehen sich nicht als «Wahrsager», es ist nicht ihr Anspruch, die Zukunft treffsicher vorherzusehen. «Zukunftsforschung ist die wissenschaftliche Analyse von Zukunftsbildern. Sie beschäftigt sich mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschbaren zukünftigen Entwicklungen», schreibt die FU Berlin dazu auf der Webseite zum Studiengang.

«Zukunftsforschung ist die wissenschaftliche Analyse von Zukunftsbildern. Sie beschäftigt sich mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschbaren zukünftigen Entwicklungen.»

Futurologen identifizieren gesellschaftliche und technologische Trends in der Gegenwart und entwickeln Szenarien von dem, was in der Zukunft passieren könnte. Ziel ist es letztlich, Handlungsalternativen aufzuzeigen, um die Entwicklung dann in Richtung einer «gewünschten
Zukunft» zu steuern. Es geht um die Erfindung der Zukunft.

Aus der Wissenschaft in die Literatur...

In diesem Sinne war ausgerechnet ein Schriftsteller ein Urvater der Zukunftsforschung. Die Rede ist – natürlich – von Jules Verne. Zwar war der Franzose kein Wissenschaftler, seine literarischen Zukunftsvisionen erhoben keinen Anspruch auf Richtigkeit. Frei aus der Luft gegriffen
waren sie jedoch nicht. In umfangreichen Recherchen machte Verne Bestandsaufnahme bei den Natur- und Ingenieurwissenschaften und paarte das Gefundene mit seiner Vorstellungskraft. So «erfand» er Wolkenkratzer aus Glas und Stahl, Hochgeschwindigkeitszüge, gasgetriebene Automobile, Rechenmaschinen, Faxgeräte, ein globales Kommunikationsnetz und natürlich die Raumfahrt. Die Parallelen, die Vernes Visionen über die Reisen ins Weltall mit der späteren Realität aufweisen, sind erstaunlich. In seinem Roman «Von der Erde zum Mond» wählte er für den Start der Rakete einen Ort, der in der Nähe des heutigen NASA-Startgeländes am Cape Canaveral liegt. Ausserdem nannte er die Fluchtgeschwindigkeit, die notwendig ist, um das Schwerefeld der Erde zu verlassen. In einem anderen Roman beschrieb er den Effekt der
Schwerelosigkeit und die Ereignisse beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.

...und zurück in die Wissenschaft

Visionen und Prognosen entwickeln sich nicht selten zu «self fulfilling prophecies». Auch dafür sind die Ideen des Jules Verne ein Beispiel: Angeregt von den Erzählungen des Franzosen, begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Pole Konstantin Ziolkowski, Geschichten über Raumfahrt zu schreiben. Mit der Zeit befasste sich Ziolkowski mehr mit physikalischen und technischen Fragestellungen und entwickelte sich zum Verfasser theoretischer Abhandlungen zum Thema Raumfahrt. Seine Arbeit gipfelte schliesslich in der Raketengrundgleichung. Selbst Fehlprognosen können dem Fortschritt auf die Sprünge helfen: Auch der österreichische Raumfahrtpionier Hermann Oberth war in seiner Jugend Jules-Verne-Leser. Als Gymnasiast wies er mathematisch nach, dass eine Reise zum Mond nicht wie in Vernes Romanen mit einer Kanone eingeleitet werden kann, weil die Passagiere den Abschuss nicht überleben würden. Oberth kam zu dem Schluss, dass für die Reise ins All eine Rakete benötigt würde. In seinem 1923 erschienenen Buch «Die Rakete zu den Planetenräumen» beschrieb Oberth dann die Grundzüge für den Bau von Grossraketen und wurde so zu einem der Väter der modernen Raumfahrt.

 

Autor: Hendrik Thielemann
Bildquelle: SpaceX
Artikel aus der STZ: Ausgabe Mai 2021

 

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